Ein Gastbeitrag von Károly Kiszely
Jeder kritisch denkende Mensch weiß, dass die Medien oft eine Scheinwelt aufbauen, die mit der wahren Wirklichkeit kaum übereinstimmt. Ein gutes Beispiel dafür ist Saddam Hussein. Er war ohne Zweifel ein böser Mensch, doch es wurden zusätzlich noch verschiedene Lügen über ihn verbreitet, angeblich für „gute Zwecke“. Für die Medienwelt ist die Wirklichkeit anscheinend immer zu wenig.
Solche falschen Berichte, falschen „Analysen“ führen automatisch zu falschen Therapien und zu katastrophalen Scheinlösungen mit fatalen Folgen.
Im Zusammenhang mit Ungarn und Viktor Orbán ist im Moment sehr ähnliches zu beobachten.
Dieses Ungarn, das wir aus den Medien in der letzten Zeit kennen lernen, existiert in der Wirklichkeit nicht. Es existiert nur in der virtuellen Welt der Medien. Es stimmen zwar die Symptome, über welche die westlichen Medien berichten, zu ca. 70% mit der Wirklichkeit überein, die Zusammenhänge und Ursachen sind aber ganz anders, als die Medien fleißig verbreiten (wenn sie solche Kleinigkeiten, wie Ursachen und Zusammenhänge überhaupt erwähnen).
Außerdem werden Schlüsselereignisse, wichtige Momente, selektiv und sorgfältig verschwiegen.
Die jetzigen Ereignisse in Ungarn sind die unmittelbare Folge der bisherigen wirtschaftlichen, medialen und allgemeinen Politik im Land.
Die Wende um 1988-1990 wurde von der stalinistischen, quasiadeligen, zeitlos etablierten Herrscherschicht mit ihrer Pseudoopposition (=die Gruppierungen der Stalinistenkinder) in Szene gesetzt. Aus den sowjetfreundlichen Stalinisten wurden über Nacht Kapitalisten, Amerika- und Nato-Schwärmer und die härtesten Befürworter neokonservativer/neoliberaler Wirtschaftspolitik (aus den Stalinistenkindern noch härtere, extrem dogmatische Neokonservative).
Sie wandelten sich sofort zu einer Kompradoren-Bourgeoisie nach dem Vorbild multinationaler Großkonzerne um. Dabei folgten sie einem alten Schema, wonach sie die Sowjetunion gegen Amerika und multinationale Großkonzerne, sowie die Planwirtschaft gegen neokonservative/neoliberale Dogmen austauschten. Statt Marx kam Hayek, aus Leninismus wurde die Anbetung des globalen Kapitalismus.
Ihr Kurs ist nicht mal wirtschaftlich liberal, da sie keine Wettbewerbsneutralität dulden: Sie wollen einen verkehrten „Sozialstaat“, wo die multinationalen Konzerne mit Steuergeldern gegenüber kleineren lokalen Firmen bedeutend bevorzugt werden.
Ihr neokonservativer/neoliberaler Kurs ist aber viel brutaler, hemmungsloser, rücksichtsloser und viel mehr doktrinär, als in Westeuropa. Sie erbten noch dazu die erdrückende Medienübermacht im eigenen Land, das internationale Kontaktkapital, den alten Staatsapparat und die alte, voreingenommene Justiz mit ihren stalinistischen Richtern (die dann auf Wunsch in heikleren Fragen hemmungslos gesetzwidrig urteilten, bis zum höchsten Gerichtshof und Verfassungsgerichtshof).
Ihr Schwindeln ist genial. Sie genießen das volle Vertrauen der westlichen Linken und ihrer Medien, da sie sich „links“ nennen. Und sie bekommen die volle Unterstützung globaler Großkonzerne und Finanzmärkte (und ihrer Medien), da sie ihre bedingungslosen Wegbereiter und gnadenlosen Geldeintreiber sind.
Sie hatten kontinuierlich die überwiegende, tatsächliche Macht seit der Wende, egal wer an der Regierung war. Wie früher bezeichneten sie ihre Kritiker pauschal als „Volksverräter“. So benennen sie seit 1989 konsequent jede Art von Kapitalismuskritik, Bankenkritik, IWF-Kritik, Globalisierungskritik, Kritik an multinationalen Konzernen: Der Widerspruch wurde gebrandmarkt als „Rechtsradikalismus“ und „Antisemitismus“. Diese Stigmatisierung war und ist eine Art berechnende Maulkorbtaktik.
Diese extrem autoritären, rücksichtslosen neokonservativen Wendehälse nennen sich: „Die Linken von Ungarn“. Sie enteigneten monopolistisch für den rücksichtslosesten Neokonservativismus den Begriff „links“. Sie dulden und duldeten keine andere Linke oder echte Linke. Durch ihre Übermacht erstickten sie im Keime ausnahmslos alle linken oder „linkeren“ Initiativen, egal ob Sozialdemokraten oder Grüne, wie zurzeit die leicht grünliche LMP-Partei.
Dadurch gibt es in Ungarn keine echte linke Alternative. Die überwiegende Mehrheit der Ungarn wissen nicht einmal, was der Begriff politisch „links“ bedeutet, da die neokonservativen Hardliner ausschließlich sich selbst mit diesem Namen benennen und ihn dadurch in ein hässliches Schimpfwort verwandelt haben.
Die pseudolinken Neokonservativen wandelten das ganze Land zum Markt multinationaler Firmen. Den Großteil der Landwirtschaft und ganze große Wirtschaftszweige legten sie lahm dafür. Es wurde immer schlimmer und schlimmer, auf den Niedergang folgte katastrophale Armut (welche mit der Armut in Österreich und Deutschland nicht vergleichbar ist) und riesengroße Arbeitslosigkeit.
Diese pseudolinke Politik traf am härtesten die Roma, und verursachte Spannungen mit ihren Nachbarschichten. Diese Spannungen nutzten die pseudolinken Neokonservativen dann hemmungslos aus, um Wählerstimmen zu holen. Sie sorgten dafür, dass diese Armut der Roma und die zugespitzten Spannungen um sie bestehen blieben, um weitere Wählerstimmen holen zu können. Sie behandelten dieses Problem weder ursächlich, noch symptomatisch, weil sie es eiskalt berechnend so wollten.
Es gab und gibt keine echte Medienfreiheit in Ungarn. Die Medienwelt wurde starr auf zwei Lager aufgeteilt, auf eine „linke“ (exstalinistische-wildkapitalistische) Fläche (ca. 70-80%) und auf die rechte Fläche (der nationalen Oligarchie, Rechtspopulisten und Rechtsradikalen). Andere Stimmen durften und dürfen nicht oder nur sehr sporadisch geduldet zu Wort kommen.
Die, durch die Exstalinisten geprägte, Richterschaft urteilt in heikleren Fragen frontal gegen die Gesetze, Verfassung und Rechtsstaatlichkeit, sowohl der Höchste Gerichtshof als auch der Vefassungsgerichtshof, wie z.B. im Minimilitärputsch Kánya-Berg (Kánya-hegy) oder in der Naturzerstörung in Sajóhídvég.
Es gab eine massenhafte Protestwelle gegen die neokonservative exstalinistische Politik im Jahre 2006. Die Reaktion darauf war gesetzwidriger, brutaler Polizeiterror (vermummte Polizisten ohne Identifizierungsnummer) mit gesetzwidrigen Verhaftungen und Folterung von Hunderten Demonstranten im September und Oktober 2006, unter der neokonservativen, „linken“ Regierung. Die Demonstranten wurden in den pseudolinken Medien völlig zu Unrecht „Rechtsradikale“ und Antisemiten genannt.
Das Land erwachte im Erlebnis, dass die Stalinisten selbst die Wende vom Volk gestohlen haben…
Man muss sich die Situation nur einmal bildlich vorstellen: Keine linke Alternative außer den pseudolinken, stalinistischen Globalkapitalisten. „Links“ bedeutet: den härtesten neokonservativen Kurs der Exstalinisten. Wer dagegen ist, ist automatisch und kategorisch „Rechtsradikal“ und „Antisemit“. Die Richter urteilen viel zu oft und viel zu demonstrativ gegen die Gesetze, für die quasiadelige, privilegierte Herrscherschicht.
Was folgt daraus? Was kann daraus nur folgen?? Ja, deswegen lehnten die Wähler die sogenannten Linke in Ungarn mit ca. ¾ Mehrheit im Parlament ab (Orbánpartei bekam: 2/3, die Rechtsradikalen noch dazu 17%).
Im Auge der Wähler hat Orbán einen positiven Zug: Er lehnte – im Gegensatz zu den „Linken“ – den bisherigen, unendlichen Servilismus gegenüber dem IWF und den multinationalen Firmen ab. Ebenso sprach er sich gegen die hemmungslose Globalisierung und die Auslieferung der Grundinfrastruktur aus. Er führte die höchste Bankensteuer Europas und die Besteuerung multinationaler Firmen ein und verkündete das Gemeinlastprinzip gegenüber den multinationalen Firmen.
Er meinte, dass „die letzte Bastion gegen die erdrückende Globalisierung“ der Nationalstaat sei. Seine ungarischen „Linkskritiker“ bestätigen mit ihrem Verhalten in jeder Hinsicht seine Behauptungen.
Es gab und gibt im östlichen Europa genug faschistoide, aggressiv-rassistische Hassprediger (wie z. B. in der Slowakei Jan Slota, welcher unter anderem die Sterilisierung von Romafrauen verlangte, aber trotzdem mehrfach an der Regierung beteiligt war). Genug chauvinistische, nationalistische, nicht sehr auf Rechtsstaatlichkeit achtende Regierungspolitiker, wie Mecar, Fico oder Ponta. Sie hüteten sich aber sehr klug vor einer tätigen globalen Kapitalismuskritik.
Die meisten Menschen in Ungarn denken, dass Orban als Feindbild durch die internationalen Medien gerade deswegen ausgesucht und dämonisiert wurde, weil er (ungeachtet seiner üblichen Willkür) als für den globalen Kapitalismus gefährlich eingestuft wurde, und die multinationalen Firmen einen Dominoeffekt befürchteten.
Trotz der Tatsache, dass Orban (aus einem ehemaligen Linksliberalen) ein unsympathischer, autoritärer, konservativer Politiker geworden ist, ist es keine Lösung, die Situation in Ungarn „für gute Zwecke“ zu verfälschen. Seine „linken“ Gegner waren ganz genauso autoritär, skrupellos und unsympathisch, ja in den Augen der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler sogar noch schlimmer als er.
Abschaffung des „Rechtsstaates“ und der „Medienfreiheit“ ? – Orbán kann nicht abschaffen, was nie vorhanden war. Er tauscht nur die Marionettenrichter und Marionettenmedien der alten Oligarchie gegen die Marionetten der neuen Oligarchie aus. Ganz genau nach dem bisherigen Muster.
Es wirkt sich auf die ungarische Innenpolitik extrem negativ aus, es ist beschämend und peinlich, dass die westlichen KritikerInnen Orbáns ausschließlich und nur das widerhallen, was die pseudolinken ungarischen Neokonservativen ihnen in den Mund legen. Ihre Äußerungen kommen mit der Presse zurück, und es ist für jeden klar, dass sie keine Ahnung haben, sich nicht gründlich informiert haben und nur das mechanisch und sehr dumm klingend wiederholen, was höchstens ein Dutzend, aus der selben engen Herrscherclique kommende „Informanten“ ihnen in den Mund gelegt haben. Wortwörtlich.
Es ist extrem peinlich…, die Rechtsradikalen fühlen sich dadurch bestätigt, die ehrlichen Wähler gekränkt und gedemütigt. So etwas stärkt den Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus.
Aber was ist die Lösung?
Zuerst muss man wenigstens versuchen, sich annähernd wahrheitsgemäß zu informieren. Ohne wahrheitsgemäße Analysen kann es keine Lösungen geben.
Die Ehre des Wortes „links“ muss zurückgeben werden. Man darf nicht den fanatischen, neokonservativen Kapitalismuskurs der Exstalinisten, ihren extrem brutalen Polizeiterror und die typische direkte gesetzwidrige Beeinflussung der Richter gegen die Gesetze unerwähnt lassen. Oder, dass sie selbst alle möglichen linken Alternativen seit 24 Jahren konsequent vernichteten und über das Land wie Adelige aus dem Mittelalter herrschten.
Die einseitige, zusammenhanglose Dämonisierung Orbáns – ohne ernsthafte Ursachenanalysen – ist auch eine Ablenkung, Symptomenbekämpfung und Sündebocksucherei.
Eine buntere Vielfalt von Informanten aus Ungarn muss Gehör finden. Beispielsweise die Grünaktivisten, Rechtsstaatsspezialisten und Bürgerrechtler Tamás PERLAKI und Ferenc ZSÁK, der Grüntheoretiker András LÁNYI, der authentische Linkstheoretiker und Ökonome Peter RÓNA, der unabhängige Ökonom und Kapitalismuskritiker István VARGA (welcher erstaunlicher Weise bisher fast nur auf der rechten politischen Fläche zu Wort kommen darf), der Linksökonom Sándor KOPÁTSY, József ÁNGYÁN, Sándorné ÁCS, Éva (Landwirtschaft, grüne Oligarchiegegner) und meine Bescheidenheit.
Károly Kiszely, Mai 2013
Károly KISZELY stammt aus Ungarn, ist ehemaliger Wehrdienstverweigerer-Pionier und war mehrere Jahre als politischer Gefangener des ungarischen Regimes in Haft. Sein Leben ist geprägt von einem tief empfundenen Pazifismus. Er engagiert sich als Bürgerrechtsaktivist, war einer der allerersten Pioniere des grünen Gedanken in Ungarn, Umweltpublizist und analytischer Kapitalismuskritiker, ehemals Mitglied und Publizist des liberalen Widerstandes und der „Samisdat“-Bewegung 1981-1989 (Wikipedia).
Das Redaktionsteam von Planet-Burgenland freut sich sehr darüber, ihn als Gastautor auf unserer Plattform begrüßen zu dürfen. Wir hoffen, dass sein Beitrag zum Grundstein für eine breite Diskussion wird (und dass ihm viele weitere folgen mögen).
josef meint
endlich eine sehr fundierte Meinung ueber Ungarn.
Irmgard Wartner meint
Ich bin sehr froh, diese informativen Texte lesen zu können. Gehört habe ich schon einiges davon aber doch zu wenig genau. Und unseren „normalen“ Zeitungen, Fernseh- und auch Radionachrichten glaube ich schon lange nicht mehr.